Denkmal ans Blutbad von Atocha 1977

Am 24. Januar ist der 40. Jahrestag des Blutbads von Atocha 1977, ein Attentat auf das Anwaltsbüro für Arbeitsrecht in der Calle de Atocha 55.

Lange habe ich überlegt, ob ich so etwas in den Blog stellen soll. Politische Themen werden ja gerne vermieden, um ja nirgendwo anzustoßen. Aber der Sinn meines Blogs ist, dir Spanien und speziell Madrid nicht einfach als steriles Tourismusobjekt und die offiziellen vorgefertigten Bilder und Meinungen zu zeigen (dazu hast du ja schon tausende an Webs), sondern dir zu helfen, das, was du siehst, verstehen zu können. Auch möchte ich, dass du begreifen kannst, welche Auswirkungen diese Geschehnisse auf das heutige Leben der Madrider und Spanier insgesamt haben und warum die Dinge so sind, wie sie sind. Deshalb sehe ich es heute gerade als meine Pflicht an, darüber zu berichten.

Eine besondere Bedeutung gewinnt diese Geschichte dadurch, dass die Inhaberin der Anwaltskanzlei die heutige Bürgermeisterin Madrids war: Manuela Carmena.

Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland, hatte vor kurzem meine Krankenpfleger-Ausbildung abgeschlossen und machte auf dem zweiten Bildungsweg an der Abendschule in Neu Isenburg mein Abitur nach. In dieser Zeit sprach ich noch kein Wort Spanisch, sondern redete mit meiner damaligen Freundin (heute meine Frau), die ich nun zweieinhalb Jahre kannte, nur auf Französisch. Auch lief unsere Kommunikation nicht wie heute mit meinen Töchtern alle Sekunden über WhatsApp, E-Mails oder Skype, sondern übers Telefon. Wir mussten dazu alle Wochen einen Termin ausmachen. Die Gespräche fanden im Allgemeinen im Haus von Freunden statt, da ich kein eigenes Telefon besaß. Das heißt, ich gab die Hälfte meines Lohnes für Telefonate aus. Wenn das Geld nicht reichte, verbanden uns meine Schwäger, die als Techniker bei der spanischen Telefongesellschaft arbeiteten. Es war also recht kompliziert, spontan miteinander zu reden.

Vielleicht gerade deswegen ist mir doch das Telefonat in Erinnerung geblieben, bei dem mir meine Freundin weinend erzählte, was passiert war.

Heute wissen wir, dass diese 7 Tage die schwierigsten in der Übergangszeit (Transition) von der Diktatur zur Demokratie Spaniens waren. Deshalb werden sie auch die „semana negra“ (schwarze Woche) genannt.

Chronologischer Ablauf

Chronologisch gesehen, geschah folgendes (es sei angemerkt, dass ich mich bei den Fakten auf das verlinkte Video der „Sexta“ stütze, weil es die Daten so wiederbringt, wie wir uns an die Geschehnisse erinnern und ich so nichts Wichtiges auslasse. Das Video hat am Anfang und zwischendrin Werbung, die man nicht ausschalten kann. Es lohnt sich dennoch, wenn du Spanisch kannst.):

Am Tage vor dem Attentat, am 23. Januar, hatte es einen großen Streik des Transportes gegeben, auf den die Regierung mit einem sehr aggressiven Polizeieinsatz reagierte.

Die extremen Rechten gingen noch weiter und ermordeten im Tumult auf der Gran Via einen 19-jährigen Studenten, Arturo Ruiz. Als wir 1988 in den Stadtteil zogen, wo wir heute wohnen, war noch überall auf den Hauswänden sein Name zu lesen – in Erinnerung an den Nachbar.

Am nächsten Tag, am 24. Januar, gehen tausende Studenten auf die Straße und fordern Gerechtigkeit. Die Polizei schlägt wieder zu und schießt einer 20-jährigen Studentin, Mari Luz Nájera, eine Kommilitonin meiner Frau, einen Nebeltopf an den Kopf. Drei Stunden später stirbt Mari Luz daran.

Die Madrider lebten eine Situation von großer Angst. Aber auch in den Institutionen herrschte Angst. Im selben Moment, in dem Mari Luz stirbt, entführt die GRAPO (Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre ) einen hohen Offizier der Armee, den Teniente General Villaescusa. Somit fühlte sich die Spitze des Militärs direkt angegriffen.

Am Abend werden die 5 Anwälte ermordet. Das Video, das ich verlinke, ist ein Bericht, der am 13. Januar im Fernsehen in der „La Sexta Columna“ der Sexta ausgestrahlt wurde. Darin erzählen die Überlebenden wie Alejandro Ruiz Huerta und Manuela Carmena die Einzelheiten, auf die ich daher nicht eingehen möchte.

Am 28. Januar ermordet die GRAPO 2 Polizisten und einen Guardia Civil. Bei der Beerdigung am 29. Januar greifen die Ultrarechten Regierungsvertreter, wie den Verteidigungsminister Manuel Gutiérrez Mellado, an, weil ihrer Meinung nach die Regierung zu nachsichtig ist. Du kannst dir so vielleicht die Stimmung in Madrid vorstellen. Der Weg zur Demokratie ist in Gefahr.

Konkret zur Bedeutung des Anwaltsbüros

Anwaltsbüro, wo das Blutbad von Atocha 1977 stattfand

Anwaltsbüro, wo das Blutbad von Atocha 1977 stattfand

Es war damals eine der wenigen Kanzleien, die die Rechte der Arbeiter vertraten. Kein Wunder, dass die Büros immer brechend voll von Leuten waren. Die Anwälte verlangten nur ein Honorar, wenn sie das Gerichtsverfahren gewannen. Ihre Putzfrauen und sie bezogen den gleichen Lohn.

Die Anwälte gehörten der Gewerkschaft Comisiones Obreras (CCOO) an, die der in diesem Moment verbotenen Kommunistischen Partei (PC) nahestand.
Das Büro arbeitete mit zwei weiteren, ebenfalls von Frauen geführten Büros zusammen: mit dem von Cristina Almeida und dem von Paca Sauquillo, noch heute wichtige Politikerinnen. Der Bruder von Paca Sauquillo wurde beim Attentat ebenfalls ermordet.

Der Ablauf des Blutbads von Atocha

Am selben Tag des Attentats fand zuvor in den Räumen des 3. Stocks eine heimliche Vollversammlung der Transport-Gewerkschaft der CCOO statt, die am Tag zuvor den Streik organisiert hatte. Joaquín Navarro, Führer dieser Gewerkschaft, wohnte der Versammlung bei.

Nach der Versammlung verließen die Leute das Büro – außer der 9 Rechtsanwälte. Joaquin Navarro war der letzte, der ging, was aber die Attentäter, die ein Stockwerk höher gegangen waren, nicht mitbekamen.

Als die Attentäter das Büro stürmten, knallten sie alle Leute ohne ein Wort zu sagen ab. Ein Arbeiter, zwei Studenten, die ihr Praktikum machten, und zwei Rechtsanwälte für Arbeitsrecht starben. Vier überleben, darunter Alejandro Ruiz-Huerta, weil ein schon toter Kollege auf ihn fiel und lebenswichtigen Teile zudeckte und eine Kugel vom Kugelschreiber abgelenkt wird.

Manuela Carmena war aus reinem Zufall nicht im Büro, weil im letzten Moment eine Besprechung an einen anderen Ort verlegt wurde.

Der Hintergrund des Blutbads von Atocha

Ein Ziel der Mörder war Joaquín Navarro, Mitglied bei Comisiones Obreras, wo er den Transport-Sektor vertrat. Damit war er der große Gegner der omnipotenten vertikalen Gewerkschaft Francos, deren große Macht am Zusammenbrechen war. Navarro hatte es am Tag zuvor geschafft, mit dem Streik des privaten Transport-Sektors Madrid lahm zu legen. Gerade dieser Sektor war der letzte, wo sich Francos Gewerkschaft noch stark geglaubt hatte.
Die offizielle Presse berichtete, dass es sich bei dem Attentat um eine Abrechnung des Transport-Sektors handele. Die vertikale Gewerkschaft vertrat die Interessen der Diktatur und konnte nicht erlauben, dass die freien Gewerkschaften mit Erfolg Streiks durchführen konnten.

Die Täter

Die Polizei tippte sogleich auf Francisco Albadalejo, Führer der vertikalen Transport-Gewerkschaft, der Navarro schön öfters mit der Pistole bedroht hatte. In diesem Falle aber führte er das Attentat nicht selbst aus, sondern schickte José Fernández Cerrá, Carlos García Juliá und Fernando Lerdo de Tejada vor, alle fanatische Faschisten der Fuerza Nueva, deren Führer Blas Piñar war.

Die Täter bereuten ihre Tat nie, sondern feierten jedes Jahr im Gefängnis ihre Tat. Keiner, außer Francisco Albadalejo, der im Gefängnis starb, hat je seine Strafe voll abgesessen. Der Richter, der dem Gericht vorsaß, war selbst jahrelang ein grimmiger Verfolger der „roten Brut“ gewesen. Laut Cristina Almeida ließ der Richter nie zu, dass der Sache wirklich auf den Grund gegangen wurde, sodass die Hintermänner nie aufgedeckt wurden.

Die Parteigenossen der Angeklagten, die dem Verfahren beiwohnten, kamen in der Uniform der Faschisten, sangen laut „Cara al sol“, die Hymne der Faschisten, und schrien, dass die Opfer Schweine seien. Dagegen wurde nichts unternommen.

Die Folgeentwicklung des Blutbads von Atocha

Zwei Tage nach dem Blutbad von Atocha fand die Beerdigung der Opfer statt. Eine riesige Demonstration, zu der tausende von Leuten gingen. Es ist die erste große Demonstration der Transition, auf der die Linke und nicht ganz so Linke offen ohne Repressalien auf die Straße gehen konnten.

Die Regierung von Adolfo Suarez wollte eigentlich eine diskrete, fast heimliche Beerdigung, weil sie Angst hatte, die Faschisten könnten ein weiteres Attentat begehen.

Die Mitglieder der Kommunistischen Partei wollten aber, dass der Abschied von den Genossen eine öffentliche Ehrung und eine Verteidigung der Freiheit und der entstehenden Demokratie sein sollte.

Aber auch die Madrider Rechtsanwaltskammer (Colegio de Abogados de Madrid), die nun gewiss nicht links war, wollte, dass die Kapelle für den Abschied von den Kollegen in der Kammer selbst eingerichtet wird, und die Beerdigung ein öffentlicher Akt sein sollte, an dem jeder teilnehmen konnte als Zeichen der Verteidigung der Demokratie.

Zum Schluss genehmigte die Regierung den Akt, erkannte aber an, dass sie nicht fähig war, die Sicherheit der Teilnehmer zu garantieren. Daher übernahm die Kommunistische Partei mit Hilfe von Comisiones Obreras selbst die Kontrolle, obwohl sie noch als illegale Organisation galt.

Stell dir mal vor, was für eine kafkaeske Situation: eine illegale Partei übernimmt den Job der Polizei! Der Polizeichef unterstellte sich dem Befehl von Luis Pérez Lara von der Kommunistischen Partei, der Tage zuvor noch die Beine in die Hand nehmen musste, wenn die Polizei kam.

Die Beerdigung wurde zu einer riesigen Demonstration, die erfolgreich und ohne Ausschreitungen beendet wurde. Sie wurde zum Symbol der Verteidigung der Freiheit, Solidarität und der Demokratie.

Am selben Tag verhandelte Ramón Tamames als Vertreter der Kommunistischen Partei mit den Militärs, um diese zu beruhigen, dass die Kommunisten nicht die Dämonen waren, als die das Franco-Regime sie hingestellt hatte.

43 Tage nach dem Attentat, am Ostersamstag, 9. April 1977, wurde die Kommunistische Partei legalisiert. Der ruhige und organisierte Ausgang der Beerdigung, sowie die große Zurückhaltung während der Demonstration haben dazu den Ausschlag gegeben.

Nach Meinung von Manuela Carmena half dies nicht nur der Legalisierung sondern auch der Demokratisierung Spaniens, denn die Kommunistische Partei war die effektivste Organisation, die nach 40 Jahren Opposition zum Ende der Diktatur beigetragen hatte. (Die sozialdemokratische Partei PSOE gründete sich erst 1974 neu unter dem Decknamen „Isidoro“.)

Am 15. Juni 1977 fanden in Spanien die ersten demokratischen Wahlen nach der Diktatur statt.

Die Attentäter und ihre Führer wollten die Demokratie ermorden und hätten nie geglaubt, dass sie damit genau das Gegenteil bewirkten!

Zu Ostern 1977 trampte ich nach Hendaye, wo ich mich mit meiner Freundin traf. Da ihr Vater im Sterben lag, fuhren wir mit dem Zug direkt nach Madrid. Die Begeisterung und Hoffnung der Bevölkerung durfte ich so in Madrid direkt miterleben.

Ich würde mich über ein Feedback von dir freuen

Was weißt du über die Geschichte Madrids nach der Franco-Zeit?

Trage es einfach unten in den Kommentar ein. Ich freue mich darauf!

2 Kommentare
  1. Birgit Schultz
    Birgit Schultz sagte:

    Hallo Heinz,
    das ist ein sehr spannender Bericht, der um so näher rückt, da ich nun mit Dir jemanden kenne, der zumindest indirekt davon betroffen war. Ich war damals noch sehr jung (noch keine 11 Jahre) aber ich meine, mich an die Nachrichten ganz dumpf erinnern zu können (meine früheste politische Erinnerung ist der Abzug der Amerikaner aus Saigon in den großen Helikoptern vom Dach irgendeines Gebäudes).

    Als Tourist macht man sich ja meist keine Gedanken, was vor nicht allzu langer Zeit an diesen Orten geschehen sein mag.

    Herzliche Grüße
    Birgit

    Antworten
    • Anonymous
      Anonymous sagte:

      Hallo Birgit,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Es freut mich, dass der Artikel interessant für dich war. Je mehr ich mich diesem Blog widme, desto mehr sehe ich die großen Informationslücken, die im deutschsprachigen Raum über Spanien und Madrid bestehen. Diese Lücken auszufüllen ist ja gerade das Ziel dieses Blogs. Demnächst mehr.

      Einen lieben Gruß aus dem kalten Madrid,
      Heinz

      Antworten

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